Foto: Lloyd Morgan, flickr.com, CC BY-SA 2.0
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Wenn einer, der aus der nordhessischen Metropole Kassel stammt, heutzutage gefragt wird, warum er den Spitznamen „Schlacke“ trägt, weiß er häufig nur mit Achselzucken zu antworten. Die von der „Fulle“, die richtig Fulda heißt, sind eben Kasseler, Kasselaner oder – nachgerade geadelt – Kasseläner Schlacken; je nachdem, ob sie Zugezogene, in Kassel geborene sind oder einen alten Kasseläner Stammbaum haben. So recht definieren kann man diesen Spitznamen nicht, aber so ungefähr beschreiben, was Kasselaner Schlacken waren: Es ist das Spiegelbild der beiden kölsche Jungs Tünnes und Schääl, nur in Nordhessen heißen sie Ephesus und Kupille.

Rumtreiber und Possenreißer

Vor 100 Jahren lebten die beiden in Kassel – und zugegeben, sie waren nicht gerade die beste Gesellschaft. Sie waren zwei Altstadt-Originale, die zwischen „Schlagd“ und Altmarkt ihre Kreise zogen, sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten, den letzten Groschen versoffen und stets für einen flotten Spruch gut waren. „Schlacken“ also; sie waren Eckensteher, Rumtreiber, Gepäckträger, Possenreißer. Ephesus, das war der Johann Georg Jäger aus Melsungen, gelernter Bäcker, ein Freund gebildet klingender Gespräche. Seinen Spitznamen erhielt er wegen seines Lieblingsspruches, und der lautete: „Groß ist die Diana, die Göttin der Epheser“. Und dies sagte er stets und häufig mit einigem Nachdruck.

Foto: Mohamed Yahya, flickr.com, CC BY-SA 2.0
Foto: Mohamed Yahya, flickr.com, CC BY-SA 2.0

Er hatte etwas an der Kupille

Bei Kupille war das anders und nicht so gescheit. Er, Heinrich Adam Ernst, war der Sohn eines Drehorgelspielers aus der Unterneustadt. Zu seinem Spitznamen kam er, weil er sich unter Hinweis auf ein Augenleiden erfolgreich dem Wehrdienst hatte entziehen können. Davon sprach er gern mit den Worten „Ich hoon was an der Kupille“. Man sagte ihm die verschiedensten Berufe nach: Er soll Polizeispitzel und Fremdenführer, Kohlenschlepper – und Strassenphilosoph gewesen sein. Auf jeden Fall einer von den „Kasselaner Schlacken“.

Ahle Worscht und Weggewerk

Vielleicht lag es an diesen beiden Originalen, vielleicht ist die Sache viel älter, aber insgesamt haben die Menschen an der Fulle immer wieder viel gutmütigen Spott ertragen müssen. Bis in unsere Tage. Da gibt es im Internet eine so genannte „Uncyclobedia“, und wer dort unter dem Stichwort „Kassel“ sucht, findet sofort diesen Eintrag: „Die Ureinwohner Kassels stammen direkt von den Chatten ab, da folgende Völkerwanderungen einen weiten Bogen um das Kasseler Becken machten“. Das von dieser unsauber recherchierenden Enzyklopädie der Hinweis kommt, das so genannte „Kasseler Wörtchen“ heiße „Ich will dä was schissen“, ist allerdings richtig. Dass die berühmte „Ahle Worscht“ eine harte Cervelatwurst ist, hat auch seine Richtigkeit. Dass hingegen die Nationalspeise „Weggewerk“ – eine preisgünstige Leibspeise von Ephesus und Kupille – nicht anderes sein soll als „ein aus Schlachtabfällen bestehender grauer Brei, der im Spätmittelalter wegen der Skorbut dem Kassler Rippche den Rang abgelaufen“ habe, gehört ins Reich der Fantasie.

Foto: tilo 2005, flickr.com, CC BY-SA 2.0
Foto: tilo 2005, flickr.com, CC BY-SA 2.0

Und dann Philipp Scheidemann

Kassel hat seinen Herkules, seine „Schlacken“, hat also Ephesus und Kupille sowie außerdem eine große sozialdemokratische Tradition, die sich, sagen Experten, in dem handwerklichen Ausdruck „rotfilzen“ festmachen lässt. Aber immerhin, berühmtester politischer Sohn Kassels – um letztmals die Uncyclopedia zu zitieren – „ist Henner Pfiffendeckel, der von 1919 bis1925 Kasseler Oberbürgermeister war und unter seinem Pseudonym Philipp Scheidemann 1918 die Weimarer Republik ausrief“. Noch ein(e) „Kasselaner Schlacke“. Übrigens: Unter dem Pseudonym Henner Pfiffendeckel hatte Scheidemann wirklich Mundartgeschichten geschrieben.

Titelfoto: Julian Stallabrass, flickr.com, CC BY 2.0